Das Malbuch als partizipatorisches Werkzeug
Das Malbuch erlebt derzeit seine Rennaissance. Die
Mindfulness-Kultur assimilierte das Malbuch und verleibte
die Tätigkeit des Ausmalens in ihr Repertoir der
Achtsamkeitsübungen ein. Der Markt reagiert auf den
Trend und generiert Seiten- und Bändeweise schwarzweiße
Ornamente und gegenständliche Motive, die sich
willig dem Farbstift feilbieten. Offenbar existiert eine
hohe Nachfrage nach Malbüchern; eine Suche mit diesem
Stichwort bei einem führenden Online-Anbieter im
Dezember 2017 ergibt 36.852 Treffer! Mit dem Erwerb
des Produkts erhält der Käufer in manchen Fällen sogar
eine CD mit Meditationsklängen, die, während des Ausmalens
abgespielt, den Zweck der Übung unterstützen
und dem Übenden den Einstieg in Trance und Entspannung
erleichtern sollen. Menschen beschäftigen sich bereits
seit Generationen mit Malbüchern. Das Ausmalen
gilt heute als anerkannte Freizeitbeschäftigung des Erwachsenen
und dieser Trend wird durch das wachsende
Angebot Tag für Tag bestätigt.
Der Boom verstellt nur allzu leicht den Blick auf subtilere
Verwendungen des Malbuch-Malens, die über Entschleunigung
und Meditation hinausgehen – ja, diese eher als
Mittel denn als Selbstzweck verstehen. Mit dem Gravenhorster
MALBUCH begreift das Künstlerduo Dieter Call
& Anja Voigt das Malbuch als „Technik“. Die Künstler
konstatieren in ihrem Exposé, das Malbuch fordere „die
Entwicklung einer räumlich-farbigen Vision, eines imaginären
Ortes, befreit von den Zwängen der räumlichen
Logik, der Maßstäblichkeit und der Gravitation“. Sie stellen
damit eine Sichtweise vor, die sich grundsätzlich von
der populären Verwendung des Malbuchs als Werkzeug
der Erreichung eines veränderten Bewusstseinszustands
unterscheidet. Hier geht es um ein Kommunikationsmittel
zur Projektion von Phantasie und der „überraschenden
Erfindung von Raum“ (siehe Exposé der Künstler),
dort um eine handlungsleitende Struktur, die dazu dienen
soll, den rastlosen bewertenden Gedankenstrom
einzuhegen. Dabei ist die Verwendung des Malbuchs für
die Künstler nicht neu. Bereits 2008, ein paar Jahre vor
dem Malbuch-Hype, veröffentlichten Call und Voigt das
BrunnenMalbuch als Bestandteil eines Souvenirpakets
im Andenken an die Neugestaltung des Platzes vor der Bergwerksdirektion in Saarbrücken. Das BrunnenMalbuch
dokumentierte den vormaligen Zustand des Platzes,
den Abriss des ovalen Brunnens bis hin zur Errichtung
des Bauzauns und Erschließung der Baustelle. Das BrunnenMalbuch
diente der Erinnerung durch die individuelle
Auseinandersetzung des Bürgers mittels Buntstift und
dokumentiert gleichzeitig die Umgestaltung des öffentlichen
Ortes aus Sicht der beiden Künstler, die diesen Prozess
über mehrere Wochen vor Ort begleiteten. Mit dem
Gravenhorster MALBUCH beschreiten die Künstler neue
Wege, indem sie die Hypothese formulieren: „Gänzlich
neue Zusammenhänge können geschaffen werden“.
Das Kloster Gravenhorst liegt im Münsterland, im mittleren
Westen der Bundesrepublik. Das sanfte Landschaftsprofil
ist geprägt von der Landwirtschaft und
wird strukturiert durch verstreute Gehöfte und Dörfer,
die sich im Abstand weniger Fahrradminuten vorfinden.
Das Kloster erlebte im Laufe seiner fast 800-jährigen Geschichte
eine wechselnde Verwendung, mitunter diente
das Gemäuer als Schule, Gießwerk und Champignonfabrik.
Unter der Trägerschaft des Kreis Steinfurt wird das
Kloster seit 2004 als Kunsthaus genutzt und beherbergt
eine kulturelle Begegnungsstätte, in der die Entstehung
und Vermittlung zeitgenössischer Kunst gefördert wird.
Für ihren Projektvorschlag erhielten Call und Voigt im
Jahr 2017 das Projektstipendium „Kunst und Kommunikation“
des DA Kunsthaus Kloster Gravenhorst. Neben
der finanziellen Förderung wurde ein Atelier vor Ort zur
Verfügung gestellt, welches zur Arbeit und als Ausstellungsfläche
während der Projektlaufzeit diente und den
Besuchern des Kunsthauses offenstand.
Ausgangspunkt des Projekts ist das mittelalterliche Kloster.
Nach Aufzeichnungen im Exposé der Künstler ströme
es eine „Aura spiritueller Versunkenheit“ aus und rufe
zu „andächtiger Besonnenheit“ auf – Attribute, die dem
kollektiven Gedächtnis kultureller Vorstellungsbilder entspringen
und die unsere Wahrnehmung klerikaler mittelalterlicher
Bauwerke und umgebende Ländereien bestimmen.
Der Psychologe Ludwig Fleck formulierte es so:
„Wenn jede Beobachtung […] ein Modellieren ist, dann
liefert die Schablone das Kollektiv.“ Sehen und Erkennen
setzt Wissen voraus. Wenn diese Einsicht befremdlich erscheint,
so verdeutlicht dieser Eindruck einmal mehr die
unbewusste Existenz dieser Wahrnehmungsschablonen,
mithilfe derer wir unsere Sinneseindrücke filtern, aussieben
und ihnen die Gestalt des Gewohnten aufdrücken.
Selbstverständlich gilt diese Bedingung auch für das Sehen
von Landschaften; sie sind, mit den Worten Lucius
Burkhardts, „nicht in der Natur der Dinge, sondern in
unserem Kopf“. In den von Burkhardt begründeten Spaziergangswissenschaften
legt er dar, wie sehr das Sehen
von Landschaften von kulturellen Erwartungen abhängt,
die losgelöst von den natürlichen Bedingungen eines
Ortes existieren können. Call und Voigt weisen mit einem
Augenzwinkern darauf hin, indem sie uns mit einer
Abbildung dreier ratlos umherirrender Personen konfrontieren,
davor die Frage: „Spaziergangswissenschaft,
wohin?“ Die Künstler experimentieren mit einzelnen
Elementen aus romantischen Motiven, die sie aus ihrem
gewohnten Kontext lösen und dem profanen Weiß der
Malbuchseite gegenüberstellen. Wie reagiert der Rezipient
auf Motive der Kunstgeschichte, wenn sie im Zusammenhang
des Gravenhorster Klosters auftauchen („van
Goghs Zugbrücke nach Bevergern?“). Wie geht er damit
um, wenn auf einer Doppelseite über dem Kloster die herausfordernde,
beinahe provokante Frage prangt: „Warum
ist Gravenhorst schön?“ In den Händen der Besucher
wird das Malbuch zum partizipatorischen Werkzeug und
der Besucher zum Kunstrezipienten, der die Motive im
Kontext der eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten und
seinen sensiblen Befindlichkeiten reflektiert. Im Text der
Künstler ist von einer „räumlich-geistigen Bewegung“
die Rede. Was ergibt sich, wenn die träge Masse der kollektiven
Wahrnehmungsgewohnheit auf dem virtuellen
Spaziergang durch die angebotenen Motive in Gang gesetzt
wird, an Fahrt gewinnt, herausgefordert wird und
vielleicht hier und da ins Straucheln gerät? Wer ist bereit,
sich auf diese Unternehmung einzulassen – Junge wie
Alte, Laien wie Künstler, Müßige wie Gehetzte? Diese
Fragen standen am Anfang des Projekts, das mit dem
Erscheinen des Malbuchs im Mai 2017 seinen Startschuss
bekam. Teilnehmer wurden dazu aufgerufen, im Laufe
der folgenden vier Monate ihr persönliches Malbuch zu
gestalten und den Künstlern zurückzuschicken, um Teil
der Ausstellung im Atelier vor Ort sowie auf der Webseite
der Künstler (www.mobileforschungsstation.com)
zu werden. Als besonderes Dankeschön winkte jedem
Einsender der Erhalt einer Orignalgraphik der Künstler,
welche sie am Ende des Projekts erhielten.
Dr. Christian Paret Diplom-Psychologe

Dieter Call & Anja Voigt· Das Gravenhorster MALBUCH als partizipatorisches Werkzeug
Projektstipendium KunstKommunikation 17/ DA Kunsthaus Kloster Gravenhorst, Kreis Steinfurt/ NRW
Installation im Museum St. Wendel – Mia Münster Haus/ Saarland, im Rahmen der Ausstellung: Dieter Call & Anja Voigt - innerhalb und außerhalb · 2019
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